»Es geht auch ohne den Kurztrip nach Thailand oder Barcelona«
18. August 2020 / Travelnews / TCS-Vizedirektor und BEM-Fachbeirat Dr. Jörg Beckmann engagiert sich seit über 20 Jahren in Forschung, Wirtschaft und Politik für eine nachhaltigere Mobilität. Bild: TCS
TCS-Vizedirektor und BEM-Fachbeirat Dr. Jörg Beckmann erklärt im Interview die Auswirkungen von Covid-19 auf die Mobilitätswelt – und er erläutert Zukunftsszenarien eines nachhaltigeren Reiseverkehrs.
»Um die Effizienzrevolution im Verkehr zu beschreiben, rede ich gerne von den 6 Es. Die ersten 3 Es sind Entkarbonisierung, Entprivatisierung und Entmotorisierung. Wir werden immer energieeffizienter dank Elektrifizierung. Da geht’s nicht nur einfach um einen neuen Motor oder Antrieb, sondern um eine ganz neue Art, das Auto zu bauen und zu nutzen. Das Auto wird mit der Elektrifizierung viel stärker zu einem digitalen Endgerät. Bei der Entprivatisierung sprechen wir vom Trend des Sharing, sei es Carsharing, Bikesharing oder Trottisharing. Das ist nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale Innovation, die sehr facettenreich ist und ebenfalls mit Digitalisierung zu tun hat. Nicht nur die Nutzung ändert sich, sondern auch die Geschäftsmodelle. Dann geht’s weiter um die Entmotorisierung des Stadtverkehrs, um die Renaissance des Velos, das ist ebenfalls ein grosses Transformationsfeld, sicherlich auch ein bisschen gesundheitspolitisch getrieben, auch durch die Veränderung der Städte, die immer lebbarer werden. Die autoorientierte Stadt will heute niemand mehr haben. Dass durch die immer lebbareren Städte die aktive Mobilität an Bedeutung gewinnt, ist ein weiterer wichtiger Transformationspfad. Diese drei Es sind im Kontext des grünen Wachstums anzusiedeln.
Dann sehe ich aber noch drei andere Es, die eher Suffizienz-getrieben sind, im Bemühen nicht nur den Ressourceninput und die Schadensintensität der genutzten Ressourcen zu verringern, sondern schlichtweg weniger Güter, Raum und Verkehr zu konsumieren. Hier geht’s also um die Frage, wie wir mit weniger Verkehr genauso oder noch sinnvoller wirtschaften können und genauso erfüllt leben können. Auch hier zeigt das Corona-Vergrösserungsglas: wir leben aktuell tatsächlich mit weniger Verkehr als vor der Krise. Nicht alle von uns würden sagen, das ist schlecht für den Menschen, geschweige denn schlecht für die Natur. Eventuell ist es schlecht für gewisse Teile einer rein wachstumsorientierten Ökonomie, für die Art und Weise wie wir bisher gewirtschaftet haben. Hier sehe ich die Stichworte Entmaterialisierung, Entschleunigung und globale Entflechtung.
Bei der Entmaterialisierung geht’s darum, mit deutlich weniger Material weiterhin mobil zu sein. Schon ein Elektroauto etwa hat nur einen Sechstel der Bauteile eines Verbrenners und ist deutlich weniger energie- und wartungsintensiv. Suffizienter wird das E-Mobil, wenn es deutlich kleiner daher kommt als beispielsweise ein Tesla Model X, geteilt und besser ausgelastet wird und seine Batterie im zweiten Leben als stationärer Energiespeicher den heimischen Solarstrom verwahrt. Beim Thema globale Entflechtung lernen wir gerade, wir können nicht verreisen, aber stellen fest, es geht auch ohne den Kurztrip nach Thailand oder Barcelona. TUI, airbnb und easyjet dürfte dies nicht freuen, dafür den einen oder anderen Ort, der heute overtouristed ist. Und Entschleunigung kann durchaus auch ein Geschäftsmodell werden, wenn wir sehen, wie sich zunehmend mehr Menschen nach Ruhe, Gelassenheit und mehr Achtsamkeit in ihrem Leben sehen. Wir haben in der Tat ein zeitökonomisches Problem in der Konsumgesellschaft, in der wir heute leben können. Wir können so viele Dinge kaufen, erwerben, nutzen, dass wir kaum noch Zeit haben das einzelne Produkt wirklich zu begreifen und tatsächlich zu nutzen. Das führt zur Tatsache, dass wir, weniger schnell und mit weniger viel Konsumgütern, für die wir kaum noch Zeit haben, leben sollten. Dies hat natürlich auch verkehrsmässige Auswirkungen, denn wer langsamer und leichter lebt, lebt in der Regel auch lokaler.«
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⇢ BEM-Fachbeirat Jörg Beckmann